Über das Verschwinden

Der Text wird wieder verschwinden. Schon ist er unleserlich. Die Tinte verblaßt. Das Papier vergilbt. Das Blatt ist naß geworden. Die Schrift ist in der Sonne ausgebleicht. Fettflecken erschweren die Lesbarkeit. Vielleicht auch Rotweinflecken. Ganze Sätze sind unleserlich (nicht mehr zu rekonstruieren). Wahrscheinlich sind die entscheidenden Sätze nicht mehr lesbar. Alles deutet darauf hin. Oder das Blatt geht verloren. Vielleicht habe ich es auch weggeworfen, zusammen mit einem Stapel alter Zeitungen. Das ist womöglich unabsichtlich erfolgt. Vielleicht wollte ich den Text aber auch loswerden, ohne mir das einzugestehen. Jetzt bin ich ihn losgeworden. Wie werde ich die anderen Texte auch noch los? Ich werde noch viel Papier entsorgen müssen. Ich werde die Stapel vor der Entsorgung nicht mehr sichten. Die Texte bleiben ungelesen. Andere bleiben ungeschrieben. Die Datei läßt sich nicht mehr öffnen. Sie läßt sich nicht wiederherstellen. Ich hätte den Text zur Sicherheit ausdrucken sollen. Dazu ist es jetzt zu spät. Es gibt keine Sicherheit. Ich finde es beruhigend, andererseits, daß die Daten wieder verloren gehen. Wir werden begraben unter Datenmüll. Daß das Archiv nicht nur ständig anwächst, sondern gleichzeitig auch erodiert. Ist das am Ende ein Nullsummenspiel? Daß Texte verloren gehen oder verschwinden. Daß nicht jeder Schwachsinn erhalten bleibt, ist doch eigentlich beruhigend. Daß manches einfach nicht mehr auffindbar ist. Daß nach manchem auch gar nicht mehr gesucht wird. Daß etliches in Vergessenheit gerät. Wahrscheinlich kann man sagen, daß zu vieles der Vergessenheit wieder entrissen wird. In den Archiven wird zuviel gesammelt. Zuviele Archive legitimieren sich durch ihre Sammlungstätigkeit. Ich schreibe diesen Satz auf einen Zettel, den ich eines Tages vielleicht einem Literaturarchiv andrehen kann. Ich erinnere mich noch gut an die Erleichterung des Dichters B., nachdem die Übernahme seines Vorlasses durch die Niedersächsische Landesbibliothek besiegelt war. Ich muß aber auch an den Einsturz des Kölner Stadtarchivs denken. Abgesehen von Unglücksfällen dieser Art, bei denen viele Dokumente zerstört oder beschädigt werden & dann nur zum Teil rekonstruiert werden können, muß die Frage gestellt werden: Werden künftige Generationen überhaupt noch dazu bereit sein, die vielen heute existierenden Archive weiter zu erhalten? Werden sie dazu bereit sein, das für den Erhalt dieser Archive nötige Geld aufzubringen? Aber selbst wenn Texte erhalten bleiben & wir ihrer habhaft werden können, müssen wir uns doch eingestehen: Nicht alles steht im Text. & es ist denkbar, daß gerade das Entscheidende nicht im Text steht. Zwischen den Zeilen steht auch nichts. Ich jedenfalls vermag nichts zu erkennen zwischen den Zeilen. Ich würde sogar so weit gehen, von Ausweich- oder Ablenkungsmanövern zu sprechen bei der Behauptung, etwas stehe zwischen den Zeilen, von unlauteren Volten. Da nun einmal nichts steht zwischen den Zeilen, kann dort alles hineingelesen werden, in diesen Zwischenraum, diese Leerstelle. Vieles hat der Autor nicht geschrieben. Der Autor hat viel mehr nicht geschrieben, als er letztlich zu Papier gebracht hat, wie man sagt. & vieles von diesem Papier ist verlorengegangen. Der Dichter S. hat in der Kneipe Gedichte verschenkt, die jetzt für künftige Werkausgaben verloren sind. Es kann natürlich sein, daß ein Gedicht an unerwarteter Stelle & plötzlich wieder auftaucht. Ob es dann allerdings auch als Gedicht von S. identifiziert werden kann, ist eine andere Frage. Ich nehme aber an, daß S. seine Gedichte im Rausch signiert hat. & dann darauf vergessen hat. Beinahe hätte ich auch darauf vergessen. Der Autor hat darauf vergessen, es aufzuschreiben – was? Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Jedenfalls sind die Leerstellen offensichtlich. Das wird zumindest behauptet. Viele Leser haben diesen Eindruck. Sie glauben, Leerstellen wahrzunehmen, Lücken im Text. Daß ein Umstand – welcher? – nicht erwähnt wird, kann doch nur als deutlicher Hinweis gelesen werden, als Fingerzeig. Die Nicht-Erwähnung einer Tatsache verweist doch gerade auf diese Tatsache. Beabsichtigt oder auch unbeabsichtigt. Ist das so? Vieles hat der Autor nicht aufgeschrieben. Vielleicht aus Angst, vielleicht aber auch aus Scham. Weil er nicht wollte, daß seine sexuelle Orientierung bekannt wird oder seine politische Gesinnung, sein Standpunkt in dieser Frage oder jener – oder die Tatsache, daß er gar nicht in der Lage wäre, einen Standpunkt zu skizzieren, geschweige denn zu vertreten. Das alles steht nicht im Text, der sich seinen Lesern zudem immer mehr entzieht. Der mehr & mehr verschwindet, Zeichen für Zeichen. Die Schrift wird immer unleserlicher. Das ist eine schlechte Kopie. Das Original ist verlorengegangen. Es ist feucht geworden. Das Blatt hat zu lange in der Sonne gelegen. Kaffee ist darüber ausgekippt worden. Das Blatt mit dem Gedicht ist als Klopapier verwendet worden. & das ist noch lange nicht alles. Der Autor schweigt sich aus. Gewisse Dinge will er uns nicht sagen. Auf gewisse Dinge will er nicht zu sprechen kommen. Der Autor hat darauf verzichtet, über seine Herkunft zu schreiben & über den familiären Hintergrund seiner Stiefmutter. Über frühkindliche Traumata & über Altersbeschwerden, Impotenz, Inkontinenz, Inkompetenz. Der Autor hat es vermieden, auf seine Drogensucht einzugehen & seine Bordellbesuche. Seinen Alkoholismus & seine Leidenschaft für Pferdewetten. Das alles steht nicht im Text. & vieles andere auch nicht. Das meiste steht nicht im Text. Ob es geheime Tagebücher gibt, in denen er sich zu diesen Themen geäußert hat, ist ungewiß. Das muß einstweilen Spekulation bleiben. Die Tagebücher werden eines Tages auftauchen oder auch nicht. Vielleicht war es vorauseilender Gehorsam, der den Autor davon Abstand hat nehmen lassen, über seine Ansichten zum Nahostkonflikt zu schreiben & zur NATO-Osterweiterung. Zu Grenzkonflikten & Grenzwissenschaften, Transdisziplinarität, Transsexualität, Transhumanismus, Rußland, China, Nordkorea usf. Wir können das nicht wissen, aber ist es nicht auffällig, daß er sich nie zum Klimawandel geäußert hat & auch niemals zur Situation in Belarus? In seinen Texten ist davon nichts zu finden. Ein geradezu dröhnendes Schweigen ist das, wie man sagt. Wonach wir in den Texten suchen, finden wir nicht. & das, was wir finden in den Texten, beantwortet unsere Fragen nicht. Gut, vielleicht stellen wir auch die falschen Fragen, oder wir stellen sie falsch. Vielleicht verstehen wir aber auch die Antworten nicht richtig. Wir können also nicht wissen, auf welcher Seite der Autor steht. Wir können darüber nur Mutmaßungen anstellen. Wir können aber feststellen, zu welchen Themen er sich ausschweigt. & sind nicht die Fragen, zu denen er nichts sagen kann oder will, wer wollte das beurteilen, letztlich die entscheidenden? Was ist von einem Autor zu halten, der zu den wichtigsten Fragen der Gegenwart nichts sagen kann oder will? Der Autor hätte doch über all diese Fragen schreiben können, niemand hat ihn daran gehindert. Eine Zensur findet nicht statt. Sollte er die Situation also falsch eingeschätzt haben & irrigerweise davon ausgegangen sein, gewisse Dinge nicht sagen zu dürfen? Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift & Bild frei zu äußern & zu verbreiten & sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit & die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk & Film werden gewährleistet. Ist das dem Autor etwa nicht klar? Kunst & Wissenschaft, Forschung & Lehre sind frei. Weiß der Autor das etwa nicht? Hat er wirklich gedacht oder denkt sogar immer noch, daß es klüger ist, mit seiner Meinung zu bestimmten Themen hinter dem Berg zu halten? In seinen Schriften finden wir zu all dem nichts. Vielleicht sollte uns aber zu denken geben, was wir alles nicht finden in seinen Schriften. Wonach wir suchen? Nun, das ist abhängig vom Kontext, von Interessen, Vorurteilen. Auch sollte in Rechnung gestellt werden, daß sich die Zeiten geändert haben. Zumindest wird das gerne gesagt. Es mag ja sein, daß ihm Fehlurteile unterlaufen sind & daß er Fehleinschätzungen aufgesessen ist. Daß er Fehler gemacht & ihn niemand darauf hingewiesen hat. Denkbar ist auch, daß er entsprechende Hinweise in den Wind geschlagen hat. Das fällt ihm jetzt auf den Kopf oder auf die Füße, so sagt man doch. Wir können nicht sagen, ob es Texte von ihm gibt, die er nicht veröffentlichen konnte, weil Zeitschriften & Verlage ihre Publikation ablehnten. Gesprochen hat er davon jedenfalls nicht. Aber von sehr vielen anderen Dingen hat er ja auch nicht gesprochen. Anhand von Briefen im Nachlaß wird diese Frage eines Tages vielleicht beantwortet werden können. Falls sich dann noch jemand dafür interessiert. Die Tatsache, daß jeder schreiben kann, was er will, garantiert noch lange nicht, daß er das Geschriebene dann auch veröffentlichen kann. Die Zensur, die in bestimmten politischen Systemen von Behörden ausgeübt wird – so eine Auffassung, die in diesem Zusammenhang zitiert werden kann –, wird in anderen Systemen vom Markt ausgeübt. In kapitalistischen Systemen können die, die an der Macht sind, sich zurücklehnen & die Zensur an private, häufig global agierende Konzerne delegieren. Ich erinnere mich an einen ungarischen Schriftsteller, der in einem Podiumsgespräch & mit seinem ungarischen Akzent, den alle sympathisch fanden, davon sprach, vor 1989 mit staatlicher Zensur zu tun gehabt zu haben & seit 1989 mit der Zensur des Marktes. Was ein Schriftsteller zu sagen hat, das kann aber doch unmöglich so brisant sein, daß seine Schriften zensiert werden müßten? Es sei denn, er äußert sich nicht als Schriftsteller, sondern als Journalist, Aktivist, Zeitzeuge, Whistleblower usf. Das ist eine Auffassung, die eine gewisse Plausibilität hat. & ich denke auch, daß die geschicktere Strategie darin besteht, Schriftsteller & deren Arbeit von staatlicher Seite zu ignorieren & gewähren zu lassen, anstatt Zensur auszuüben & sie als Märtyrer zu adeln. Zensoren sind die genauesten Leser. So aufmerksame Leser wie vor 1989 werden die osteuropäischen Schriftsteller nicht mehr finden. & fühlt sich nicht jeder in seiner Bedeutung als Autor bestätigt, der sich mit Zensurbehörden herumschlagen muß? Das sind Anekdoten aus Ungarn oder aus der DDR, Heldengeschichten vom erfolgreichen oder bloß versuchten Austricksen der Kulturbureaukratie, der Verlags- oder Theaterleute. Ich denke, heute ist es im Grunde vollkommen gleichgültig, mit welchem Inhalt die Kanäle des Kulturbetriebs befüllt werden. & doch gibt es gleichzeitig harte Grenzen der Sagbarkeit, rote Linien, wenn es um die Formulierung von fundamentalen politischen Alternativen geht, um die sogenannte Systemfrage. Ist das ein Widerspruch? Oder sind das nur die zwei Seiten einer Medaille? Die Grenzen werden immer wieder verrückt. Der Kollege L., der sich als Diskurs-Partisan begreift, testet seit Jahrzehnten aus, wo diese Grenzen verlaufen, wie sie verschoben werden usf., was er etwa im Feuilleton einer deutschen Tageszeitung sagen kann, im Rundfunk & was nur in der Zeitschrift, die er selbst herausgibt. Die Digitalisierung spielt den Zensoren in die Hände. Wer ein Buch aus dem Verkehr ziehen möchte, muß jedes einzelnen Exemplars habhaft werden. Flugschriften können unentdeckt kursieren. Nur erwischen darf man sich nicht lassen mit der Flugschrift, darf keine Spuren hinterlassen. Es gibt Berichte von Menschen, die eine Botschaft lesen & hinterher sofort das Blatt verspeisen, auf dem der Text zu lesen war, die den Text also unmittelbar nach der Lektüre zum Verschwinden bringen. Noch sind aber nicht alle Spuren beseitigt. Noch tauchen Fragmente auf aus dem Text. Nicht immer ist klar, daß es sich um Fragmente aus diesem Text handelt. Vielleicht ist jemand im Stande, sich den Text zu merken, den er kurz vor seinem Verschwinden gelesen hat, zumindest in groben Zügen. Er ist dann womöglich der einzige, der in der Lage ist, den Text wiederzugeben – bis auch er ihn vergißt. Oder aufschreibt. Das Lesen wird mühsam jetzt. Das Licht ist schlecht. Die Schrift ist zu klein. Die Konzentration läßt nach. Buchstaben fehlen. Ich bin mir zudem ziemlich sicher, daß eine ganze Seite fehlt. Auch die Nummerierung der Seiten stimmt nicht. Anders ergibt der Text keinen Sinn. Es ist unmöglich, den Inhalt der fehlenden Seite zu rekonstruieren. Er ergibt auch so keinen Sinn. Immer mehr Buchstaben fehlen. Zwar ist bekannt, daß wir beim Lesen dazu fähig sind, eine beträchtliche Anzahl fehlender Buchstaben zu ergänzen & sogar darüber hinwegzulesen, wenn die Reihenfolge der Zeichen durcheinandergeraten ist. Die Bereitschaft, Sinn zu unterstellen & also in eine Zeichenfolge hineinzulesen, ist grundsätzlich sehr groß. Aber irgendwann wird die Struktur zu löchrig, um die Ergänzungen noch vornehmen zu können. Der Leser tappt im Dunkeln. Der Leser gibt auf. Der Text ist verschwunden.